Salman Masalha
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Das Symbol
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Das Symbol
Im Leben jedes Einzelnen wie auch der Völker und Kulturen kommt der Sprache eine zentrale Bedeutung zu. Sie ist es, die Stimmungen, Gedanken und Wünsche prägt. Sie ist es, die alles bewahrt: ein Brunnen der Geheimnisse, aus dem nie ein Tropfen verloren geht und der deshalb, im Guten wie im Schlechten, die Essenz des Lebens spiegelt.
«Führer und Symbol» ist einer der geläufigsten unter den Ehrentiteln, mit denen die Palästinenser Yasir Arafat bedachten. So stand es auf Bannern und Transparenten zu lesen, die zu seinen Ehren geschwenkt wurden, und so wurde er über Jahre hin in den Kommentaren, Editorials und Artikeln der palästinensischen Presse bezeichnet.
Arafat war aber nicht nur ein Symbol des palästinensischen Volkes - er ist ein Symbol für alle arabischen Gesellschaften. Jeder arabische Führer, König oder Präsident pflegt seine eigene Aura und baut sich selbst zu einer Symbolgestalt, zum Vater der Nation auf. An dieser Machtposition hält er lebenslang fest; denn bekanntermassen tritt kein arabischer Herrscher freiwillig von seinem Posten zurück. Im besten Fall wird er eines natürlichen Todes sterben.
Ein Mann, ein Volk, ein Schicksal
Wo die westlichen Kolonialmächte einst zwischen den Ländern des Mittleren Ostens nach eigenem Gutdünken Grenzen zogen und die Gebiete untereinander aufteilten, da versuchen sie heute, mit diesen problematischen Symbolen der arabischen Welt zu Rande zu kommen. Es scheint, als habe sich nichts verändert. Der Stolz der arabischen Länder auf ihre «nationale Unabhängigkeit» ist ein Schlagwort ohne realen Inhalt geblieben. Der Mittlere Osten hat sich in seinem Tun und Lassen nicht verändert, und demzufolge ist es nach wie vor der Westen, der die Geschicke der arabischen Völker via Fernsteuerung lenkt. Wie symbolträchtig ist es, dass sogar der Tod des Symbols Arafat von Europäern verkündet werden musste: Die Palästinenser, ausgeschlossen von direkter Teil- und Anteilnahme, waren auf die westlichen und sogar die israelischen Medien angewiesen, um überhaupt zu erfahren, wie es um «Führer und Symbol» des Volkes stand.
Während vier Dekaden sind die Palästinenser im Guten wie im Schlechten mit Arafat identifiziert worden. Die palästinensische Identität ist fast unlösbar mit seiner Person verbunden, weil er es war, der die Sache der Palästinenser von Küste zu Küste, von Berg zu Tal durch die ganze Welt getragen hat. Arafat war es, der die Parole von der «unabhängigen Entscheidung der Palästinenser» prägte - als Entgegnung auf die konstanten Einmischungen der arabischen Staaten nach dem Ende der britischen Mandatszeit und trotz der Gründung des Staates Israel auf einem Teil des historischen Palästina.
Spekulationen nach der Art «wo stünden wir, wenn X oder Y nicht geschehen wäre?» sind immer heikel. Aber es ist auch schwierig, sich der Versuchung solcher Gedankenspiele zu entziehen, wenn man über die Situation zwischen Israeli und Palästinensern nachdenkt. Für die Palästinenser selbst war der Konflikt mit Israel Segen und Fluch zugleich, indem er - dies der positive Aspekt - der palästinensischen Identität zugute kam. Ohne die Gegenkraft der zionistischen Staatsgründung hätte sich eine unabhängige palästinensische Identität wohl gar nie konkretisiert, und die Palästinenser wären diffuser Bestandteil eines grosssyrischen Staates geblieben. Bis Mitte der 1960er Jahre war die Haltung der arabischen Länder gegenüber den Palästinensern vorab durch die Flüchtlingsfrage definiert, da der Gazastreifen und Cisjordanien unter ägyptischer beziehungsweise jordanischer Kontrolle standen; damals war keine Rede von einem eigenständigen palästinensischen Staatswesen in diesen Gebieten. Die Sache der Palästinenser galt vielmehr als Teil der gesamtarabischen Auflehnung gegen die Fakten, welche die westlichen Mächte und die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Nahen und Mittleren Osten geschaffen hatten.
Im Sechstagekrieg wurden die Karten neu gemischt, und es begann der Konflikt zwischen den zwei Völkern, die beide dieses Land als das ihrige beanspruchen. Nachdem die Araber im Juni 1967 ihre grosse Niederlage erlitten hatten und der erste Führer der PLO, der Panarabist Ahmad Shuqeiri, von der Bildfläche verschwunden war, wurde ganz Palästina von Israel besetzt. Zu diesem Zeitpunkt betrat Arafat die Bildfläche, und bis zu seinem Tod war er der Fahnenträger des palästinensischen Befreiungskampfes.
Fehlende Weitsicht, chaotische Sprache
Der Fluch des israelisch-palästinensischen Konflikts liegt in der Tatsache, dass der Staat Israel einer der finstersten Perioden der Menschheitsgeschichte seine Gründung verdankt; er sollte den europäischen Juden Zuflucht und den festen Boden einer eigenen Nation bieten. Die Palästinenser waren nicht in der Lage, mit der Last umzugehen, die da plötzlich an ihrer Türschwelle niedergelegt wurde. Die arabischen Herrscher im Allgemeinen und die palästinensischen Führer im Besonderen vermochten es nicht, die historischen Prozesse in ihrem näheren und weiteren Umfeld zu überblicken und zu begreifen. Deshalb haben alle Schachzüge, die Arafat während der vergangenen Jahrzehnte unternahm, ihm selbst und - wichtiger noch - den Palästinensern nichts als Fehlschläge und Niederlagen eingebracht: vom Schwarzen September in Jordanien über den Bürgerkrieg in Libanon, den Transfer der palästinensischen Führung nach Tunis oder Arafats Parteinahme für Saddam Hussein nach der Invasion Kuwaits bis hin zu seiner Fehleinschätzung der Weltlage nach dem 11. September.
Ein Grund dafür liegt in der Sprache. Wie eingangs festgestellt, konstituiert sich in ihr viel von der Essenz jedes Einzelnen: Sie verleiht seinen Gedanken und Wünschen Ausdruck, sie formt und prägt auch sein Denken und seine Mentalität. Je besser die Substanz, aus der dieses Werkzeug geformt ist, je präziser und differenzierter es eingesetzt werden kann, um so besser wird es auch der Sache des Sprechers dienen. Je stumpfer es umgekehrt ist und je ungeschickter es gehandhabt wird, desto riskanter wird sein Gebrauch; hierzu hat auch die amerikanische Politik in jüngerer Zeit Beispiele geliefert.
Aus Arafats Mund hat man nie einen ordentlichen, wohlgestalten arabischen Satz vernommen. Die sprachlichen Sturzbäche, in denen er sich artikulierte, waren immer ein Chaos aus Wörtern, Slogans, Adjektiven und Präpositionen, die sich ohne Achten auf die Regeln der arabischen Sprache aneinander reihten. Seine Mitarbeiter mussten selbst erraten, welche Absichten und Ideen sich in diesem Mischmasch aus Worten verbargen. Über Jahre hin sah so auch die Politik aus, die Arafat im Namen des palästinensischen Volkes betrieb.
Bis zum Letzten war nun nicht nur dieses Volk, sondern auch die palästinensische Führung dazu verurteilt, über die Krankheit des «Führers und Symbols» und über seine möglichen Absichten hinsichtlich der Zukunft der Palästinenser zu rätseln und zu spekulieren. Selbst Arafats Tod hat also dieser Industrie der Orientierungslosigkeit kein Ende gesetzt.
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Published in:
Neue Zürcher Zeitung, November 12, 2004